Der Künstler Gaspare Traversi (1722-1770) wuchs Anfang des 18. Jahrhunderts in einem lebhaften Stadtviertel des italienischen Neapel auf. 1753/54 kreierte der angesehene Portraitist das Gemälde Die Operation. Dabei handelt es sich um ein barockes Ölgemälde, das in ungewöhnlichem Format und lebensnaher Perspektive einen drastischen Blick auf einen operativen Galleneingriff eröffnet.
Die drastische Darstellung einer Operation
In deckenden, qualitativ verwendeten Farben zeigt Die Operation einen seitlich abgestützten Mann, an dessen Galle sich ein Operateur mit Operationsbesteck zu schaffen macht. Das Gesicht des Mannes ist zu einem Schrei verzerrt und verleiht seinen Schmerzen Ausdruck. Ein Operationshelfer steht zentral hinter dem halbwegs liegenden Mann. Über den Patienten gebeugt, fixiert der Helfer dessen Arm in die Höhe. Mit geneigten Augen beobachtet er die Operation. Von links hinter dem Patienten aus beugt sich der Operateur seitlich über den halb auf einem Kissen gelagerten Mann und starrt mit konzentriertem Gesichtsausdruck auf dessen halbentblößtes Becken. In Höhe der Galle hält der Operierende mit einer Hand das weiße Hemd des Mannes zurück. Seine andere Hand hält einen spitzen Gegenstand, mit dem er konzentriert die Operation vollzieht. Der operierte Bereich ist von feinen Blutspuren übersät, die sich bis über das weiße Hemd des Patienten erstrecken. Eine Ebene hinter dem Operierenden steht eine Frau mit seitlich gedrehtem Kopf, ineinander geschlagenen Händen und geschlossenen Augen. Sie steht in einer ähnlichen Haltung wie der Patient. Der Kleidung nach zu urteilen, spielt sich die Operationsszene im Milieu der neureichen Emporkömmlinge ab. Rötliche Brauntöne und Grautöne dominieren das eher dunkel gestaltete Bild. Eine Ausnahme von der dunklen Farbqualität bildet die Patientendarstellung. Mit den Farben Weiß und Blau zeigt sich der Mann im Kontrast zu Operierenden und Hintergrund. Der dunkle Rot-Braun-Ton des restlichen Gemäldes steht zum Beispiel im Komplementärkontrast zum blauen Patientensakko. Zwischen dem weißen Hemd des Mannes und den dunklen Tönen des Hintergrunds besteht Hell-Dunkel-Kontrast mit harten Übergängen. Insgesamt wird das Gemälde von expressiver Gestik, dramatischem Lichtspiel und naturalistisch bis genrehafter Darstellung geprägt.
Gaspare Traversis außergewöhnliche Bildkonstruktion
Während Operationshelfer und Frau im Hintergrund bis über die Brust abgebildet sind, sind Patient und Operateur bis über die Taille dargestellt. Beide befinden sich in ähnlicher Körperstellung. Eine Ebene hinter dem Operateur steht die Frau in fast gänzlich abbildähnlicher Haltung zum Patienten. Sie befindet sich auf gleicher Ebene mit dem Operationshelfer, also in einiger Distanz zur Operation. Die Haltung des Operationshelfers gleicht wiederum der Haltung des Operateurs. Seine Stellung wirkt allerdings nicht wie ein tiefenversetztes Abbild, sondern wie ein tiefenversetztes Spiegelbild des Operierenden. Gesicht und Körper des Patienten lassen sich entlang der Operationsakteure in ein ungleiches Dreieck fassen. Damit bildet der Patient kompositorisch den Fokus des Gemäldes. Das ungleiche Dreieck wiederholt sich als Formelement der Komposition auch an anderer Stelle. So entsprechen die geneigten Haltungen der Dargestellten für sich jeweils Dreieckskonstruktionen. Der Operationshelfer ist der einzige Akteur, der links über geneigt steht. Alle anderen Figuren befinden sich in rechts geneigter Haltung. Sein Kopf bildet zusammen mit dem entgegen geneigten Kopf der Frau und der in der Höhe fixierten Hand des Patienten den höchsten Punkt der Komposition. Der freie Arm des Patienten ist zur Hälfte unter seinem eigenen Kopf gelagert. Ab dem Ellenbogen streckt sich der Arm verkrampft in einer Parallelen zum oben fixierten Arm aus. Zwischen den beiden Parallellinien liegt das schmerzverzerrte Gesicht des Patienten. Damit „rahmt“ Gaspare Traversi den Schmerz der Operation. Durch die Komposition wirkt das Bild „überfüllt“. Zwischen den dargestellten Akteuren besteht so gut wie kein Freiraum. Die Akteure setzen sich über das Bild hinaus fort und das Gemälde erreicht mittels perspektivischer Verkürzung und Überlagerung dreier Tiefenebenen eine außerordentliche Raumwirkung, die bedeutungsperspektivisch wirkt und die Zentralperspektive zur Auflösung bringt.
Ein Genregemälde, das neue Wege beschreitet
Gaspare Traversis Bildkonstruktion richtet sich gegen die klaren Formen der Renaissance, wie es für die Zeit des Barock eine übliche Spielart war. Bewegung und absichtliche Überladung stehen im Barock der einfachen Klarheit vorausgegangener Renaissance-Gemälde gegenüber und greifen die typische Renaissance-Geometrie genauso sehr auf, wie sie sie schließlich auflösen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang vor allem die Auflösung der Zentralperspektive, die Traversi in seinem Gemälde zugunsten einer bedeutungsperspektivischen Darstellungsweise vollzieht. Der Schmerz des Patienten wird so in den Fokus der Betrachtung gerückt. Darüber hinaus schneidet er die Akteure seiner „Operation“ an und deutet damit den Raum außerhalb des Gemäldes an, was eine gefühlte Unmittelbarkeit der Schmerzen zur Folge hat. Auch mit dieser Darstellungsweise bricht Traversi aus der Klarheit der vorausgegangenen Renaissance aus und passt sich nahezu ideal in die späten Tendenzen des Barock ein. Durch die ähnlichen Haltung von Frau und Patienten gliedert er diese beiden Personen in eine Personengruppe, die er der zweiten Personengruppe aus Operierendem und Operationshelfer entgegengestellt.
Das Zeitalter des Barock war eine Zeit religiös und gesellschaftlicher Umbrüche, die die Künste mit Themen wie Zerrissenheit und Leid bevölkerte. Die Welt wurde „umgestaltet“. Wissenschaftliche und geographische Entdeckungen stellten sich ein, neue Ökonomie-Strukturen bildeten sich heraus und die Zeit der Aufklärung stand kurz bevor. Der Mensch fiel wie ein Spielball aus den gewohnt religiösen und standesbezogenen Bindungen und wurde zwischen religiös politischen Mächten hin und hergeworfen. Stück für Stück kristallisierte sich in dieser Epoche ein Bewusstsein über die Vergänglichkeit des Irdischen heraus. Die Allgegenwart des Todes und das Wissen von der Unbeständigkeit menschlichen Glücks prägten die Kunstdomäne. Aufgrund der omnipräsenten Anwesenheit von Tod und Leid galt es als allerdings auch als oberstes Ziel, für jeden lebendig verbrachten Tag dankbar zu sein und das diesseitige Leben bis in seine Vollen zu genießen. Die von jenseitigen Themen geprägte Malerei wurde bislang für wertvoller erachtet als die Genremalerei. Im Barock gewann das unpathetisch naturalistische Genrebild mit seiner Darstellung alltäglicher Szenen langsam an Wert. „Die Operation“ ist als ein solches Genrebild des Barock zu verstehen, wenngleich Traversi mit seinen Genregemälden die altbewährten Wege stückweit verlässt. Diese Experimentierfreude wird auch bei näherer Betrachtung seiner Operation ersichtlich.
Blau als Farbe von Klarheit und Himmel sowie Weiß als Farbe der Reinheit und Unschuld zeichnen ein religiös spirituell geprägtes Bild des Patienten. Die Frau im Hintergrund scheint während der Operation für den Patienten zu beten. Da sie kompositorisch eine Personengruppe mit dem Patienten bildet, lässt sich diese Personengruppe an dieser Stelle als „die Gläubigen“ benennen. Sowohl Operateur, als auch Operationshelfer treten wiederum als Allegorien der Wissenschaft auf, deren rötliche Brauntöne die Beständigkeit wissenschaftlichen Bestrebungen zur Zeit der langsam beginnenden Aufklärungsepoche signalisieren. Die beiden Operierenden „vergewaltigen“ den Patienten annähernd: der Operationshelfer zwingt den Mann zu Passivität, indem er seinen Arm fixiert. Der nach oben gereckte Arm des Patienten passt wiederum zu seiner Gläubigen-Natur: er lässt den dargestellten Mann scheinbar „nach dem Himmel greifen“. Der Operationshelfer weiß das zu verhindern. Im übertragenen Sinn überwältigt in Traversis Bild die Wissenschaft also den Gläubigen und lässt ihn tiefes Leid erfahren. Die zweite „gläubige“ Person verschließt wiederum die Augen vor dem Operationsprozess der Wissenschaft. Traversi fängt mit seinem Genrebild also einerseits das Leid ein, mit dem Menschen seinerzeit in einer Position zwischen Wissenschaft und Glaube konfrontiert waren. Drüber hinaus stellt er mit der Frau im Hintergrund die Tendenz vieler Religionsanhänger dar, vor den wissenschaftlichen Erkenntnissen die Augen zu verschließen. Das außergewöhnliche Leid des Patienten steht in der abgebildeten Szene im Kontrast zum hilfreichen Charakter des wissenschaftlichen Eingriffs. Mit der Vereinigung all der genannten Themen löst Gaspare Traversis Genregemälde die Grenzen zwischen irdisch profaner Malerei und religiös spiritueller Malerei auf, obgleich es sich bei dem Bild auf den ersten Blick um die ausschließlich naturalistische Darstellung einer Alltagsszene aus dem Neureichenmilieu handelt. Auf den zweiten Blick fängt Traversi mit der Operation auf umfangreiche Weise den Zeitgeist ein. Er gibt detailliert den Konflikt zwischen irdischem Erkenntnisinteresse und religiös spiritueller Sehnsucht nach dem Jenseits wieder.
Traversi arbeitete und lebte an einer Schwelle zwischen dramatischer Barock-Theatralik und dem nüchternen Geist der einsetzenden Aufklärung. Die Hoffnungen, Träume und Einstellungen seiner Mitmenschen gegenüber des Zeitumschwungs prägten die meisten seiner Genrebilder. In seinem Heimatviertel hatte das „Teatro di San Bartolomeo“ seinen Sitz. Ab 1733 wurde dort Pergolesis Die Magd als Herrin aufgeführt, das als komisches Intermezzo für die ernste Oper angelegt war und eine neuartige Form des Musiktheaters ins Leben rief. Volkstümliche Probleme, alltäglich menschliche Verhaltensweisen und Schwächen wurden in theatralisch-komischer Darstellungsform aufgezeigt. Die neue Experimentierfreude, die Darstellung menschlicher Schwächen und die Ironie des Intermezzo scheinen Traversi in seiner Malerei beeinflusst zu haben. Auch „Die Operation“ fühlt sich nach einer Darstellung menschlicher Schwächen an. Dem Patienten wird trotz all seinem Leid durch die Wissenschaft im Grunde aus seinem Leid geholfen. Würde man seinen Arm aber nicht fixieren, dann würde er sich dieser Hilfe entziehen und vermutlich dagegen ankämpfen, was der Situation einen leicht ironischen Beigeschmack gibt. In Traversis Genregemälden barocker Theatralik schwingt so der leichte und nüchterne Geist der Aufklärungsepoche mit.
Das Bild die Operation von Gaspare Traversi ist in der Staatsgalerie Stuttgart ausgestellt.
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