Henri Matisse und die „wilde“ Kunst der Fauves

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Heutzutage gilt Henri Matisse als einer der bedeutendsten Vertreter der modernen Kunst im 20. Jahrhundert. Seinerzeit aber stießen er und seine Werke zunächst auf Unverständnis und Ablehnung. Seine Kunst war revolutionär und avantgardistisch, denn er brach mit Konventionen und strebte nach einer totalen Abkehr vom Althergebrachten. Seine Bilder waren bunt, von leuchtender Farbigkeit, sie wirkten wild und ungezügelt. Matisse wollte das Neue in der Kunst und ebenso wollte er, dass auch der Kunstbetrachter seine Sehgewohnheiten änderte und sich mit frischem Blick dem Kunstwerk öffnete.

Kunst im Umbruch

Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist ein überaus spannendes Kapitel für die Kunstgeschichte. Denn in dieser Zeit des politischen, sozialen und kulturellen Umbruchs entstanden in der Kunst zwischen 1905 und 1916 die unterschiedlichsten Tendenzen, Bewegungen und Gruppierungen. Man mag nur an die „Brücke“ denken oder an den „Blauen Reiter“ mit ihren Manifesten und programmatischen Absichtserklärungen. Daneben entwickelte sich zudem der Fauvismus mit Matisse im Zentrum, aber auch der Kubismus oder der Dadaismus.

Diese Strömungen und Gruppen standen oft im krassen Gegensatz zueinander, zeichneten sich aber durch ein gemeinsames Merkmal aus – dem Wunsch nach einem Bruch mit der Vergangenheit. Aus diesem Streben entwickelte sich eine große Bandbreite an künstlerischen Experimenten. Man suchte nach neuen Ausdrucksmitteln was Farbe und Form anging, wandte sich der Abstraktion zu und experimentierte mit künstlerischen Materialien und Techniken.

Henri Matisse und der Fauvismus

1905 stellte eine Gruppe junger Künstler ihre Werke im Pariser Salon d’Autonome aus. Neben Gemälden von Henri Matisse fanden sich hier auch Kunstwerke von Albert Marquet, André Derain, Kees van Dongen und Maurice Vlaminck. Ihnen gemein war eine neue und leuchtende Farbgebung, die in den Augen der Betrachter zunächst grell und unrealistisch erschien. Gerade im Vergleich zu Werken des Impressionismus mit ihrer leichten, lichtdurchfluteten Farbigkeit, wirkten diese Gemälde fast roh und wild.

Nach seinem Besuch der Ausstellung verspottete der Kunstkritiker Louis Vauxcelle die Maler gar als „Fauves“, als wilde Tiere. Damit gab er der Gruppe um Matisse ihren Namen und aus dem eigentlichen Spottnamen wurde die Bezeichnung für eine Stilrichtung. Deren Merkmal war der Einsatz von reinen, leuchtenden Farben als provokatives Hauptausdrucksmittel. Damit knüpften sie an die Entwicklungen an, die schon von Van Gogh und auch den postimpressionistischen Werken Gauguins eingeleitet wurden. Gauguin wollte schon zur einfachen und ursprünglichen Gestaltung zurückkehren und die Fauves trieben dies weiter voran. Formen wurden bei ihnen nunmehr reduziert und vereinfacht dargestellt. Auf Licht- und Schattenmodellierungen wurde ganz verzichtet. Die Fauves wandten sich von einer genauen Wiedergabe des Motivs ab. Die Wirklichkeitsdarstellung in einem Gemälde war für sie nur ein Klischee, von dem sie sich durch Verzerrung der Form und Übertreibung der Farbe zu befreien suchten. Ihre Bilder sollten frei von jeglicher Konventionalität und vielmehr Ausdruck von Individualität sein.

Die Gruppe mit Henri Matisse als Schlüsselfigur bestand nicht lange. Zwischen 1907 und 1909 lösten sie sich bereist wieder auf. Matisse aber blieb seiner Linie in Bildern mit prächtiger und fröhlicher Farbgebung auch danach weiterhin treu.

Matisse und die Farben

Henri Matisse stellte die Farbe in den Mittelpunkt seiner Werke. Seiner Meinung nach waren die Mittel der Malerei im 19. Jahrhundert dermaßen verbraucht, dass ihre Ausdrucksstärke erschöpft war. Um der Kunst neues Leben einzuhauchen, müsse man zu ihren Grundlagen, nämlich den reinen Farben, zurückkehren. Und so begann er gewagte Kompositionen in schreienden Farben zu kreieren und versah diese mit kräftigen, dunklen Umrisslinien. Die Farbflächen sollten klar voneinander abgegrenzt werden und nicht ineinander übergehen. Dabei war es ihm nicht wichtig, natürliche Farben zu wählen und Gegenstände oder Körper realistisch darzustellen. Augenscheinlich ist dies beispielsweise bei seinem monumentalen Gemälde „Der Tanz“ von 1909/10.

Das Bild gibt es in zwei Versionen. Bei der zweiten Version, die in der Eremitage im russischen St. Petersburg hängt, beschränkt sich Matisse bei der Bildgestaltung auf drei komplementäre Farben – leuchtendes Rot, tiefes Blau und dunkles Grün. Das Bild ist stark vereinfacht, es gibt keine unnötigen Details oder sorgsame und realistische Ausgestaltung. Einzig die tanzenden Figuren, in kräftiges, feuriges, fast aggressives Rot getaucht, stehen im Mittelpunkt. Die Tanzenden halten sich an den Händen, bilden einen Reigen. Matisse hat sich hierbei auf eine ornamentale Flächenhaftigkeit beschränkt und dennoch spricht das Bild von Dynamik und Lebensfreude. Formen und Farben stehen in Harmonie zueinander, bilden eine Einheit. Matisse macht damit deutlich, dass die Aussagekraft eines Gemäldes nicht von Detailreichtum und realistischer Ausgestaltung abhängig ist, sondern allein durch die Komposition von Form und Farbe zum Betrachter spricht. Matisse zeigt mit „Der Tanz“, dass es ihm nicht um den dargestellten Gegenstand an sich geht, sondern vielmehr um die bloße Wirkung des Kunstwerkes.

Matisses Entwicklung

Nach seinem Jurastudium wandte sich Henri Matisse um 1890 der Kunst zu. Er lernte im Atelier von William Adolphe Bouguereau die Salonmalerei kennen und fühlte sich von ihr nicht inspiriert, sondern eingeengt und gelangweilt. Jedoch wusste Matisse stets zu schätzten, dass er bei Bouguereau eine an der Klassik orientierte Grundausbildung erhalten hatte. Als er später an seiner eigenen Académie Matisse unterrichtete, legte er großen Wert auf die weitere Vermittlung dieses Wissen. Tradition kann als Grundlage des Neues gesehen werden.

Matisse weiterer Weg führte ihn dann zum Symbolisten Gustave Moreau, der mit seinen Werken großen Einfluss zum einen auf die Fauves und zum anderen auf die Symbolisten hatten. Moreaus Werke stellen vor allem biblische und mythische Szenen dar. Diese Motive aus der Geschichte und Mythologie waren bei Henri Matisse aber alsbald verpönt, stattdessen stellte er vermehrt Figuren und Landschaften, häufig beide in Harmonie miteinander, dar.

Matisse schuf zahlreiche Stillleben, malte Landschaften und Interieurs, häufig aber auch Frauengestalten, entweder bekleidet oder nackt. Matisse Umgang mit Form und Farbe lässt sich besonders gut nachvollziehen, wenn wir drei seiner Gemälde gegenüberstellen, deren Sujet gleich ist. Es handelt sich hierbei um „Luxus, Stille und Wolllust“ (1904), „Pastorale“ (1906) und „La Joie de Vivre“ (1905-06). Das erste Gemälde entstand während eines Aufenthalts in St. Tropez und spiegelt mediterranes Licht und Wärme wieder. Mit den Mitteln des Pointilismus wollte Matisse hier den Akt des Betrachtens zu einer Erfahrung machen. Bei „La Joie de Vivre“ hatte er sich bereits vom Pointilismus abgewandt. Die Wahl der Farben ist aber ähnlich, wenn auch die Farben hier in ihrer Flächigkeit viel leuchtender und aussagekräftiger erscheinen.

Allen drei Bildern ist gemein, dass sie eine Figurengruppe eingebunden in einer harmonischen Beziehung mit der sie umgebenden Landschaft zeigen. Bei „La Joie de Vivre“ wird die titelgebende Lebensfreude besonders deutlich. Hier erschuf Matisse eine wahre Hymne an das Leben, ausgedrückt durch eine strahlend-bunte Farbexplosion. Im Hintergrund sieht man wieder einen Reigen an Tanzenden – ein Motiv, das Henri Matisse zeitlebens immer wieder ausgestaltete.

Matisse erschuf hier moderne Hirtenbilder, Pastoralen, die Menschen und Natur im Einklang miteinander zeigen. Er erzeugt diese Wirkung der Harmonie obwohl, oder vielleicht auch gerade weil, er die Farben antinaturalistisch einsetzt. Seine Bilder sprechen trotzdem von Sommer und Wärme, von Licht und vibrierendem Leben. Von Freude. Sie sprechen von Matisse Freude und Lust an Farben und Formen. Die Pinselstriche gerade in „Pastorale“ und „La Joie de Vivre“ sind soviel mehr Matisse Metier als der feine Pointilismus. Bei „Luxus, Stille und Wollust“ lässt ihn die gewählte Maltechnik zurückhaltender scheinen, nicht so frei und wild in seinem Ausdruck wie die anderen beiden Gemälde es zeigen.

Matisses Bilder sind unorthodox in ihrer Farbwahl, nach und nach löst er die Formen immer mehr auf. Seine Figuren wirken stilisiert und später abstrakt. In den 1920er Jahren steigert er seine Malweise noch durch weitere Reduktion des Körperlichen. Das flächig-dekorative Element der Arabeske gewinnt bei ihm immer weiter an Bedeutung.

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