Der amerikanische Künstler Roy Lichtenstein (1923-1997) zählt neben Andy Warhol, Jasper Johns und Robert Rauschenberg zu den großen Ikonen und Wegbereitern der amerikanischen Pop Art. Lichtensteins weltweiten Ruhm begründeten vor allem die durch die Pünktchen-Technik der Ben-Day Dots verfremdeten Abmalungen von Comics wie „Look Mickey“, „Crying Girl“ oder „Whaam!“. Damit sorgte Lichtenstein zum ersten Mal bei Ausstellungen des legendären New Yorker Kunsthändlers Leo Castelli Anfang der 1960er Jahre für Furore in der Kunstwelt. Lichtenstein benutzte ein Klischee aus den allseits bekannten und massenhaft verbreiteten Comics, blies das Motiv überdimensional auf und übertrug es mit Öl- und synthetischen Farben einschließlich der Comic-typischen Sprechblasen auf Leinwand. Leuchtende Farben und dicke schwarze Konturen sind ebenfalls typisch für Roy Lichtenstein. Verstärkt durch die Ben-Day Dots, welche die Bilder einerseits sehr nah an der Vorlage, andererseits beinahe bedrohlich verfremdet wirken lassen, schuf Lichtenstein mit seinen frühen Comic-Werken Klassiker der Pop Art mit hohem Wiedererkennungswert. Allerdings blieb der Künstler bei diesen für ihn bald zum Markenzeichen werdenden Motiven aus der Comic-Welt nicht stehen. Ab Mitte der 1960er Jahre verabschiedete sich der Maler von Mickey und Co. und begann damit Gemälde berühmter Maler vor ihm wie Picasso und Matisse zu verfremden. Die Ben-Day Dots behielt er allerdings als sein Markenzeichen bei und fand im Alter wieder zum Comic zurück. In seinen allerletzten Arbeiten vor seinem Tod beschäftigte sich Lichtenstein mit chinesischen Landschaften. Auch als Plastiker ist der Künstler in Erscheinung getreten.
Comics und Ikonen der amerikanischen Alltagskultur der 1950er/60er Jahre
Was die amerikanische Nationalflagge für Jasper Johns und die Suppendose für Andy Warhol, das wurden typisch amerikanische Comics mit den berühmten Pünktchen für Roy Lichtestein. Die drei Maler wurden so zur Dreifaltigkeit der amerikanischen Pop Art, eine ureigene Stilrichtung in der Kunstgeschichte der Vereinigten Staaten. Erste Versuche Massencomics als Folie für die eigene Malerei zu verwenden, hatte es schon vor Lichtenstein gegeben und Andy Warhol hatte in etwa zeitgleich wie Lichtenstein damit experimentiert. Voneinander gewusst oder sich gegenseitig beeinflusst haben sich die beiden späteren Ikonen der Pop Art in ihren Anfängen nicht. Die Zeit war offenbar reif für solche auf den ersten Blick banale und plakative, auf den zweiten in ihrer direkten Reflexionslosigkeit ihre Zeit charakteristisch widerspiegelnde Kunst. Der Mythos lag im Hier und Jetzt und im Alltag, von Geschichte, Transzendenz und höherem Sinn wollte die Generation amerikanischer Künstler nach Holocaust und Zweitem Weltkrieg und später dem Koreakrieg am Vorabend des Vietnamkrieges nichts wissen. Der Sinn des Lebens eine Comic-Sprechblase? Vielleicht. Lichtenstein und die anderen Väter der Pop Art wollten sich mit ihren scheinbar vordergründig versimplifizierenden Werken ohne Transzendenz auch ein Stück weit von der anderen, fast eine Generation älteren, nervöseren Stilrichtung des abstrakten Expressionismus eines Jackson Pollock absetzen. Die Strategie ging auf.
Statt Action Painting wie Pollock Abmalen von Comicfiguren wie Mickey und Donald
Der im Action Painting Farbe über die Leinwand schüttende Jackson Pollock und der sorgsam seine Comic-Pünktchen-Bilder perfektionierende Roy Lichtenstein sind vielleicht neben Andy Warhol und Jasper Johns die beiden großen Pole innerhalb der US-amerikanischen Nachkriegsmalerei. Auf die Traumatisierung der amerikanischen Zivilgesellschaft durch den Krieg reagierten die Nachkriegskünstler mit Verweigerung der angeblichen „Realität“ und schufen sich ihre eigene. Als Pollock 1956 starb, wartete Roy Lichtenstein noch auf seinen großen Durchbruch, der ihm tatsächlich 1961 mit der Mickey-und-Donald-Adaption im Großformat gelingen sollte. Da war der Vietnamkrieg gerade mal ein Jahr alt. Das Gemälde „Look Mickey“ zeigt in Öl auf Leinwand die beiden bekannten Disney-Helden Mickey Mouse und Donald Duck beim Angeln. Mickey schlägt sprachlos über Donalds dicken Fang die weiß behandschuhte Hand vor den Mund, während Donald im Matrosenanzug über sein Anglerglück völlig aus dem Häuschen ist und in der Sprechblase triumphiert: „Look Mickey, I´ve hooked a big one!!“ („Schau Mickey, ich hab´einen dicken Fisch am Haken!“). Heute gilt das Bild als eines der wichtigsten Arbeiten im Werk von Roy Lichtenstein. Es ist charakteristisch für seine Lakonie, seinen Humor und seine hintersinnig im harmlosen „Abmalen“ von Comics versteckte Kritik an der Hohlheit und Oberflächlichkeit sowie Neigung zur Selbsttäuschung und Selbstgerechtigkeit der amerikanischen Gesellschaft.
Von der Inspiration im Kinderzimmer zur hohen Kunst in den New Yorker Galerien
„Look Mickey“ wurde zu Lichtensteins erstem großem Erfolg. Der Künstler erzählte später, seine beiden Kinder hätten ihn zu dem Werk herausgefordert mit der Bitte, etwas so Tolles zu malen wie die bunten Bildergeschichten in ihren Comic-Heften. Das Bild und andere auf Comics basierenden Werke aus Lichtensteins Atelier trafen offenbar den Nerv der Zeit und der New Yorker Kunstszene: Als der legendäre New Yorker Kunsthändler Leo Castelli im Februar 1961 die erste Solo-Show für den immerhin schon 38 jährigen und noch unbekannten Maler aus New Jersey einrichtete, waren sämtliche Bilder schon vor der Vernissage ausverkauft. Das ikonographische Meisterwerk der Pop Art wurde nach Lichtensteins Tod 1997 der National Gallery of Art in Washington, D.C. gespendet und ist dort in einer Dauerausstellung zu sehen. Das Museum besitzt die größte Sammlung mit Werken des Künstlers weltweit, gefolgt vom Art Institute of Chicago und in Europa dem Museum Ludwig in Köln. Ein Kuriosum und eine Fußnote der Kunstgeschichte ist das mehrteilige Fresko im sogenannten „Roy-Lichtenstein-Saal“ der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf: Die 1970 erteilte Auftragsarbeit für den Architekten eines Gebäudes der damals neuen medizinischen Fakultät wurde von Assistenten des mittlerweile zu Ruhm aufgestiegenen Malers an Hand auf den Putz projizierter Diapositive nachgezogen, in zweiwöchiger Marathon-Arbeit mit Farbe ausgefüllt und mit den charakteristischen Lichtensteinschen Punkten angereichert. Nur 100.OOO DM soll Lichtenstein damals für das auf 48 Wandmeter verteilte und bis heute der Öffentlichkeit zugängliche Kunstwerk erhalten haben. Zum Vergleich: Die Arbeit „Masterpiece“ aus dem Jahr 1962 wechselte im Januar 2017 für 165 Millionen US-Dollar den Besitzer. Bis dahin hatte das Bild jahrzehntelang über dem Kamin einer wohlhabenden New Yorker Kunstsammlerin gehangen.
Die traurigen Tränen der Frauen und die aggressive Kriegslust der Männer
Die Frauen und ihre Traurigkeit in tragischen Situationen, wie sie in der plakativen, vordergründig naiven Bildsprache von Comics der 1950er und 1960er Jahre auftauchen, sollten lebenslang ein immer wieder aufgegriffenes Lieblingsmotiv des Malers bleiben. Eines der berühmtesten davon ist „Drowning Girl“, 1963 mit Ölfarben und synthetischen Farben auf Leinwand gemalt. Das Bild hängt im Museum of Modern Art in New York und gilt als eines der charakteristischsten der Pop Art überhaupt. Das dicke Tränen weinende Comic-Mädchen mit den typischen Lichtenstein-Punkten wurde tausendfach auf Postern und Drucken, T-Shirts, Tassen und Kalendern sowie anderen Utensilien des Alltags reproduziert. Ähnlich weltweit populär und tausendfach reproduziert wurde das ebenfalls 1963 entstandene Gemälde „Whaam!“ des Künstlers. Das den Crash eines Kampfflugzeugs als Comic wiedergebende Bild bildet einen Gegenpol zur passiven Welt der weinenden Frauen und Mädchen und spiegelt die maskuline Seite der Pop-Art-Kultur wider. Der Maler soll hier und in einigen ähnlich angelegten Bildern eigene Erfahrungen aus seiner Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg verarbeitet haben. „Whaam!“ ist seit 2006 im Museum Tate Modern in London zu sehen.
Der lange Weg von Kubismus und Expressionismus zu Brushstrokes und Pop Art
Bevor Roy Lichtenstein mit seinen großformatig aufgeblasenen Comic-Adaptionen zu Weltruhm kam, versuchte er sich wie viele seiner vom Krieg traumatisierten Altersgenossen malend im abstrakten Expressionismus. Sein künstlerischer Weg sollte ein anderer werden, aber mit dem Expressionismus in den verschiedensten Spielarten hat sich der Maler selbstironisch wiederholt auseinandergesetzt. In einer Reihe von Gemälden und Skulpturen aus der sogenannten „Brushstrokes“-Serie (Pinselstriche) setzt sich der Künstler satirisch mit seiner Überwindung des abstrakten Expressionismus und der gestischen Malerei seiner frühen Jahre auseinander. Eines der bekanntesten Werke dieser Serie ist „Big Painting No. 6“ aus dem Jahr 1965. Das Ölgemälde befindet sich in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf. Auch mit dem Expressionismus eines van Gogh hat sich Roy Lichtenstein in späteren Jahren malerisch auseinandergesetzt. Das in einer privaten Sammlung befindliche Bild „Bedroom at Arles“ malte der Amerikaner 1992 als satirisch-liebevolle Hommage an die gleichnamige Bilder-Serie von Vincent van Gogh. Bei Lichtenstein sind die Farben kräftiger, die Stühle hypermodern und zitronengelb und die Tapete hat natürlich das berühmte Ben-Day-Dot-Muster.
Vom Verfahren eines Druckers aus dem 19. Jahrhundert zu den Ben-Day Dots der Pop Art
In der Kunstgeschichte und im Bewusstsein Kunstinteressierter heute ist der Name Roy Lichtenstein untrennbar mit Ben-Day Dots verbunden. Die berühmten Punkte hat der Meister der Pop Art allerdings nicht erfunden, sondern der New Yorker Drucker Benjamin Henry Day, Jr. rund dies schon 100 Jahre früher. In einem speziellen Druckverfahren werden die Punkte so angeordnet, dass daraus Flächen einer anderen Farbe entstehen. In den 1950/60er Jahren, als Lichtenstein die Punkte aus der Druckerei für seine Kunst entdeckte, nutzte die sich rasant entwickelnde Comicheft-Industrie das Verfahren, um ohne großen Kostenaufwand Farbvielfalt und Schattierungen in die Bildchen zu bringen. Lichtenstein druckte die Punkte zunächst nicht, sondern malte sie auf seine spezielle, unverwechselbare Art bewusst übertrieben groß abwechselnd mit Flächen und machte die Ben-Day Dots zu seinem unverwechselbaren Markenzeichen. Assoziationen zum französischen Pointillismus stellen sich ein. Im Subtext setzte sich der Maler damit in eine direkte Linie mit der Tradition europäischer Malerei des späten 19. Jahrhunderts eines Seurat oder Signac. In den Jahren 1991-1992, als für den Künstler die Zeit des (Selbst-) Zitierens angebrochen war, setzte Lichtenstein in einer Keramikfliesen-Skulptur (übrigens die einzige, die er je aus diesem Werkstoff geschaffen hat) seinen weltberühmten Punkten ein Denkmal. Das Werk steht unter dem Titel „El Cap de Barcelona“ als Auftragsarbeit für die Olympischen Sommerspiele 1992 in der katalonischen Metropole und gilt auch als Hommage an den Künstler Antoni Gaudí.
Ein Mal New York – Ohio – New Jersey und zurück – Biografie Roy Lichtensteins
Roy Lichtenstein wurde 1923 als Sohn jüdischer Emigranten aus Deutschland in New York geboren und wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen in der Upper Westside auf. Als Einzelgänger eher scheu und zurückhaltend, verbrachte der Schüler viel Zeit mit dem Hören von Jazzmusik und dem Lesen von Comics, bevorzugt Flash Gordon. Die Keimzelle für seinen späteren Malstil wurde hier gelegt. Angeregt durch kunstsinnige Lehrer, entschied sich Lichtenstein nach dem Highschoolabschluss 1939 für ein Studium der Malerei an der Ohio State University. Von 1943 bis 1946 kämpfte der Kunststudent als einfacher Soldat mit der US-Armee im Zweiten Weltkrieg in Frankreich, Belgien und Deutschland. Nach Kriegsende schloss Lichtenstein sein Kunststudium ab und wirkte zunächst in Ohio als Kunstlehrer. Diese Tätigkeit führte er auch nach Eheschließung 1949 und Geburt zweier Söhne während der 1950er Jahre zunächst fort, zunächst in Ohio, später im Staat New York und in New Jersey. Nach einer ersten Einzelausstellung in New York City 1951 blieb sein Werk, zunächst noch Kubismus und Expressionismus verpflichtet, weitgehend unbeachtet. An Ölgemälden mit Indianern und Rodeo reitenden Cowboys, auch wenn sie maltechnisch gegen den Strich gebürstet waren, war die Kunstwelt nicht interessiert. Wirtschaftlich erlebte die Familie Lichtenstein zeitweise auch harte Jahre mit Jobs des Vaters u.a. als Schaufensterdekorateur. Teilweise soll der finanziell eingeschränkte Maler Bilder für 10 Dollar das Stück verkauft haben. Der Karriereaufschwung kam mit der maltechnischen Umstellung auf die Einbeziehung von Comic-Motiven in seine Bilder, nach der Familienlegende angeregt durch die Lektüre der beiden kleinen Söhne. Lichtenstein griff die Idee, die gut in das Konzept der sich langsam vor allem in New York (Andy Warhol) etablierenden und noch längst nicht mit dieser Bezeichnung etikettierten Pop Art passte, konsequent auf und erhielt grosse Aufmerksamkeit.
Erfolgreiche Solo-Shows von Manhattan bis London und der weitere Weg
Die Einzelausstellung bei Leo Castelli 1961 in Manhattan bescherte Roy Lichtenstein einen Überraschungserfolg mit dem Verkauf sämtlicher Bilder. Die Weltkarriere als Pop Art Künstler der ersten Stunde war nicht mehr aufzuhalten. Vielbeachtete Ausstellungen unter anderem in Los Angeles und London folgten. 1968 erwies die Tate Modern Roy Lichtenstein eine besondere Ehre: Die Einzelausstellung mit seinen Werken in diesem Jahr war die erste jemals einem lebenden amerikanischen Künstler gewidmete Solo-Show in der Geschichte des renommierten Londoner Museums. Zu dieser Zeit hatte sich der Maler schon weitgehend von seinen Comic-Motiven verabschiedet. Sporadisch tauchten sie aber immer wieder mal in seinem Werk auf, in seinen letzten Lebensjahren verstärkt als nackte oder sich gerade ausziehende Blondinen. Anders als die traurig und unselbständig wirkenden und häufig in Tränen aufgelösten Frauen aus den frühen 1960er Jahren wählte der späte Lichtenstein für seine Frauenporträts der 1990er Jahre Comics mit selbstbewusst und von Männern unabhängig auftretenden Frauenfiguren. Ein Beispiel dafür ist „Nude with Red Shirt“ (in Privatbesitz), 1995 gemalt nach einem Frauen-Comic aus dem Jahr 1967.
Hassliebe mit Konkurrent Andy Warhol, private Turbulenzen und Tod mit 73 Jahren
In New York zogen Lichtenstein und Andy Warhol in einer Art kollegial angespannter „Hassliebe“ lange Zeit wie zwei parallele Planeten ihre künstlerischen Bahnen. Bei Kostümfesten liebte es Lichtenstein als Warhol verkleidet aufzutauchen und der Respekt für das Werk des anderen war bei jedem der beiden als Persönlichkeiten sehr verschiedenen Künstler durch Konkurrenzdenken überlagert. Die Kunstgeschichte ordnet beide heute als herausragende Gegenpole der Pop Art Bewegung ein. Privat erlebte Lichtenstein Mitte der 1960er Jahre einschneidende Veränderungen. Die Ehe mit der Innenarchitektin und Galerieangestellten Isabel Wilson wurde 1965 geschieden, 1968 heiratete der Künstler die New Yorkerin Dorothy Herzka, ebenfalls in der Galeriebranche tätig. Die kinderlose Ehe hielt bis zu Lichtensteins Tod 1997. Seinen Lebensmittelpunkt hatte der Maler seit den späten 1960er Jahren im beschaulichen Southampton im Staat New York sowie in Manhattan. 1997 starb der geschwächte Künstler mit 73 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung in einem New Yorker Krankenhaus. 1999 wurde die Roy Lichtenstein Foundation gegründet, die sich der Pflege von Werk und Archiv widmet. Außer seinen in öffentlichen und privaten Sammlungen befindlichen Gemälden hat Roy Lichtenstein eine Reihe von Skulpturen und mehr als 300 Drucke mehrheitlich im Siebdruckverfahren geschaffen.