Der mit nur 48 Jahren 1770 in Rom gestorbene neapolitanische Künstler Gaspare Traversi gehört nach Ansicht vieler Fachleute zu den originellsten und fähigsten Malern des Settecento, des italienischen 18. Jahrhunderts. Umso verwunderlicher erscheint es auf dem ersten Blick, dass der Name Traversi selbst bei Kunstkennern mehr als zweihundert Jahre lang nahezu unbeachtet geblieben ist. Dem italienische Kunsthistoriker Roberto Longhi (1890 – 1970), einem ausgewiesenen Experten für die Renaissance- beziehungsweise Frühbarock-Malergrößen Della Francesca und Caravaggio, ist es zu verdanken, dass nach dem Ersten Weltkrieg die Grundlagen für die wissenschaftliche Traversi-Forschung gelegt wurden. Allerdings ist das Werk Traversis auch in den Folgejahrzehnten abgesehen von einem engeren Kreis von Fachwissenschaftlern weiterhin auf nur geringes Interesse gestoßen. So blieb Traversi auch in der an Malerei interessierten Öffentlichkeit in Deutschland weiterhin eine unbekannte Größe. Erst eine vom Museo e Gallerie Nazionali di Capodimonte (Neapel) und der Staatsgalerie Stuttgart gemeinsam verantwortete Einzelausstellung, die erste des Künstlers überhaupt, hat im Jahr 2003 bewirkt, dass Gaspare Traversi die ihm gebührende Aufmerksamkeit zuteilwerden konnte.
Das Werk des Neapolitaners stellt, abgesehen von den bestechenden künstlerischen Qualitäten der Traversi-Gemälde, zum großen Teil eine hochinteressante Einladung dar, sich den italienischen Lebensumständen in der Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem Blickwinkel eines scharfsichtig beobachtenden und den realen Menschen in das Zentrum stellenden Zeitgenossen zu nähern. Nicht von ungefähr stellten etliche Stimmen Traversis Werke in eine Reihe mit Gemälden und Grafiken des für seine drastischen und sozialkritischen Arbeiten berühmten Londoner Malers und Zeichners William Hogarth (1697 – 1764). Aber Traversi kann nicht nur durch seine Genremalerei überzeugen, sondern auch durch seine im Auftrag entstandenen Arbeiten für Kirchenzwecke sowie durch seine Porträt-Malerei.
Den italienischen Hogarth und dessen Werk hinlänglich in den Kontext der einst herrschenden politischen Zustände und Geistesströmungen einordnen zu können, wird durch die Spärlichkeit der Quellenlage hinsichtlich der Biografie des Künstlers erschwert. Dennoch stellt es mehr als nur reine Spekulation dar, Traversi als zumindest aktiv beobachtendes Mitglied der im Settocento erhebliche Veränderungen in den Gesellschaften der Apennin-Halbinsel versuchenden Italien-Variante der Aufklärungsbewegung zu vermuten.
Die so lange gedauerte Vernachlässigung von Gaspare Traversi in der Fachwelt und im Kunstbetrieb ist wohl auch dem Umstand geschuldet, dass die übergroße Mehrheit der erhaltenen Traversi-Bilder über Jahrhunderte überhaupt nicht ihrem Schöpfer zugeordnet worden ist. Traversi hat die meisten seiner Bilder nicht signiert. In Folge sind viele seiner Gemälde anderen Malern, unter anderem dem Römer Pier Leone Ghezzi (1674-1755), zugeschrieben worden. Erst durch die mühevolle Kleinarbeit von Longhi und anderen Traversi-Kennern ist es im letzten Jahrhundert gelungen, etwa 200 Werke eindeutig als Schöpfungen des Neapolitaners zu erfassen und zu katalogisieren. Gut die Hälfte davon gehört der Kategorie Genremalerei an. Genremalerei war im 18. Jahrhundert durchaus nicht verpönt, aber galt als wenig prestigeträchtig. Deshalb ist es wohl schlüssig, dass Traversi seinen Lebensunterhalt wahrscheinlich vornehmlich durch Aufträge für Porträts und religiöse Kunst bestritten hat. Dabei halfen ihm offensichtlich gute Kontakte zu einzelnen Vertretern des Klerus. Der wichtigste darunter war der Franziskaner Raffaello Rossi (gest. 1760), der von 1744 bis 1750 als Generalminister an der Spitze seines Orden stand. Traversi hat Fra Raffaello mehrmals porträtiert. Eine der prominentesten Auftraggeber Gaspare Traversis war der Kardinalpriester Giovanni Giacomo Millo (1695 – 1756), der als Präfekt der vatikanischen Zentralbehörde Congregatio pro Clericis zu den einflussreichsten Personen der päpstlichen Kurie zählte. Kardinal Millo verhalf Traversi vermutlich auch zu dem lukrativen Auftrag, eine Serie von Gemälden für Millos römische Titularkirche, der Basilica di San Crisogono, zu malen.
Die Gemälde Traversis
Sowohl bei seinen Porträts als auch bei seinen religiösen Bildwerken entfernte sich Gaspare Traversi von dem damals üblichen idealisierenden Malstil. Gaspare Traversis, oft ausgesprochen drastisch und mit theatralischer Gestik, nicht selten fast karikaturenhaft angelegte Figuren wirken wie Menschen mit Individualität in Realität und nicht wie gewollt spirituell und künstlich wirkende Statuen in einer normierten Schein-Wirklichkeit. Traversis Malstil ist eindeutig vom Schaffen des großen Caravaggio (1571 – 1610), dem Mitbegründer der Barockmalerei in Italien, mitgeprägt worden. Traversi hat insbesondere die Räumlichkeits-Effekte der von Caravaggios zur Vollendung entwickelten Hell-Dunkel-Malerei (Chiaroscuro) übernommen. Auffallend für Traversis Bildgestaltung seiner in der Regel auch satirisch oder ironisch zu verstehenden Genre-Gemälde ist die Fülle der dargestellten Gestalten. Die dargestellten Szenen scheinen stets fast den durch die Größe der Leinwand vorgegebenen Rahmen sprengen zu wollen. Gerne lässt Traversi seine Personen das Publikum direkt ansehen und erzwingt so ein Miteinbeziehen des Betrachters in die Szenerie. Dieser Effekt macht Traversis Bilder zeitlos, weil auch ein Betrachter des 21. Jahrhunderts sich unvermittelt auf einem Marktplatz oder in einem Salon des 18. Jahrhunderts wiederfindet und sich zusammen mit Menschen glaubt, die sich wegen ihrer Lebendigkeit und Nachvollziehbarkeit lediglich durch Äußerlichkeiten vom Menschen der Gegenwart unterscheiden. Ein Beispiel für diesen fesselnden Blick findet sich im Gemälde Das Konzert (ungefähr 1760 entstanden) mit der verloren, nahezu hilfesuchend den Betrachter anblickenden Spinettspielerin inmitten einer Gruppe ihre Lüsternheit kaum verbergenden Zuhörern.
Traversis Fähigkeit, fesselnd zu wirken, wird exemplarisch auch bei zwei seiner Werke deutlich, die deutsche Besitzer haben: Dem etwa 60 x 73 cm messenden, sich in Münchener Privatbesitz befindenden Ölgemälde Orgoglio materno (Stolz der Mutter) und dem 1999 von der Staatsgalerie Stuttgart angekauften, 78 x 104 cm großen Ölbild L’operazione chirurgica (Die Operation). Stolz der Mutter zeigt eine die Bildfläche fast vollständig ausfüllende, sitzende Dreier-Familie. Der sich auf einen Gehstock aufstützende, seinem Äußeren nach offenbar zur bürgerlichen Schicht gehörende Vater sitzt im Chiaroscuro-Dunkel, schaut selbstzufrieden auf seine Frau und Tochter und bleibt ansonsten Statist. Die hellgesichtige Mutter und ihre sie umarmende ebenso blasse halbwüchsige Tochter beherrschen gut ausgeleuchtet die Szenerie. Sie blicken den Betrachter lächelnd frontal an. Dieses zunächst leicht kitschig wirkende Familie-Idyll verliert seine freundliche Harmlosigkeit beim näheren Hinsehen. Traversi gelingt es, den Eindruck zu vermitteln, als ob die Mutter nicht absichtslos einfach nur ihren Stolz über ihr mutmaßlich gelungenes Kind ausdrücken möchte. Vielmehr drängt sich wegen der Köperhaltung der Mutter, wegen ihres als gierig und berechnend interpretierbaren Lächelns und Augenaufschlags sowie wegen des unbedarften Grinsens und der nach oben geöffneten Hand des Mädchens ein ungutes Gefühl auf. Der Betrachter gewinnt den Eindruck, dass das Mädchen hier einem potentiellen Heiratskandidaten als eine Art Produkt zum Erwerb angeboten werden soll.
Das um 1753 entstandene Bild Die Operation macht Traversis Talent, eine bewegte Szene perfekt einzufangen, besonders gut deutlich. In dem durch die Diagonalen eines Dreiecks bestimmten Bildaufbau wird der Augenblick festgehalten, in dem ein Arzt mit der robusten Hilfe seines Assistenten einem bedauernswerten Patienten Gallensteine sticht. Der Moment des technisch von Traversi vollendet dargestellten Eindringens der Operationsnadel in die Hüfte des durch die Armkraft des Assistenten nur bedingt sistierten und nachvollziehbarerweise angstverzerrt schreienden Patienten verschafft dem Betrachter selbst nahezu körperliche Schmerzen. Im dunklen Hintergrund verdreht eine Angehörige in mitleidender Qual ihre Hände. Bei aller Pein hat die Szene aber auch einen eigenwilligen Anklang von gemäßigt grausamen Humor der Art, der bei Nichtbeteiligten manchmal schadenfroh aufkommt, wenn klar zu sein scheint, dass es bei der Schmerzzufügung nicht um Leben und Tod geht.
Das Leben von Gaspare Traversi
Die städtische Welt, in der Gaspare Traversi zuhause war, war auf Schritt und Tritt von solch drastischen Szenen bestimmt. Der Maler scheint mit Vorliebe diese alltägliche Welt der Feste, Märkte, Familiengeschichten, kleinen Katastrophen und spießigen Abgründen festgehalten zu haben. Geboren wurde Gaspare Traversi Ende 1722 oder Anfang 1723 in der süditalienischen Metropole Neapel. 1734, als Traversi etwa 12 Jahre alt war, wechselte die Landesherrschaft als Ergebnis von Erbfolgekriegen von den bis dahin regierenden Habsburgern an eine spanisch-bourbonische Nebenlinie. Neapel, die Hauptstadt des festländischen Königreichs Sizilien (es gab gleichzeitig auch noch das insulare Königreich Sizilien) zählte damals etwa 250.000 Einwohner und gehörte zu dieser Zeit zu den Städten Europas mit der größten Bevölkerungsdichte. Traversi wuchs in eher bescheidenen Verhältnissen als eines von zehn Kindern des möglicherweise aus Genua zugewanderten Händlers oder Kaufmanns Domenico Traversi auf. Seine Mutter, Margherita Marinello, ist früh gestorben. Vater Traversi scheint die Begabung seines Sohnes gefördert zu haben und ihm Malunterricht beim für seine Theatralik-Bildsprache und Hell-Dunkel-Malerei bekannten Neapel-Künstler Francesco Solimena (1657 – 1747) erlaubt zu haben. In seiner Geburtsstadt dürfte Traversi in den 1740er Jahren Raffaello Rossi kennengelernt haben, der für Traversis weitere Karriere als Förderer so bedeutsam geworden ist. Ende der 1740er Jahre/Anfang der 1750er Jahre erfolgte Traversis Umzug in das römische Stadtviertel Travestere. 1753 heiratete der Künstler Rosa Orlandi. Das Paar bekam vier Kinder, von denen zwei als Babys starben. Zumindest zeitweise hatte die Familie mit erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Am 1. November 1770 ist Traversi, der nicht nur in Neapel und Rom, sondern auch in Parma gearbeitet hatte, in Travestere gestorben. Der zu Lebzeiten durchaus bekannte Maler geriet nach seinem Tod rasch in Vergessenheit.
Traversi-Bilder sind weltweit in vielen berühmten Museen zu bewundern. So unter anderem im Louvre, wo sich das Gemälde La rissa aus dem Jahr 1754 befindet. Das römischen Museo d´Arte Antica di Palazzo Baberini besitzt das Porträt von Joannethino de Molina und das New Yorker Metropolitan Museum La bella addormentata. Trotzdem hat erst die von Juli bis November 2003 in der Stuttgarter Staatsgalerie präsentierte und danach von Dezember 2003 bis März 2004 in Neapel gezeigte Ausstellung „Gaspare Traversi 1722-1770 – Heiterkeit im Schatten“ (italienischer Ausstellungsname: „Gaspare Traversi napoletani del ‘700 tra miseria e nobiltà“) Traversi nachdrücklich der Öffentlichkeit nahegebracht. Aufbauend auf den Arbeiten von Roberto Longhi hat die von Kurator August Bernhard Rave hauptverantwortete Ausstellung 65 Werke des Malers präsentieren können.
Das in Bourbonen-Herrschaften im Süden, das habsburgische Großherzogtum Toskana, den vom Papst in Mittelitalien regierten Kirchenstaat, die Adelsrepubliken Genua und Venedig, das Savoyer-Königreich Sardinien-Piemont im Norden sowie weitere Staaten geteilte Italien erlebte zu Traversis Zeit eine stürmische Diskussion über aufklärerische Themen. Inwieweit dieser damals vor allem von fortschrittlichen adligen und bürgerlichen sowie geistlichen Bildungsschichten getragene und für die Alltagswelt der kleinen Leute bestenfalls ansatzweise bemerkbare Diskurs Traversis Weltsicht und Werk beeinflusst hat, kann nur gemutmaßt werden. Möglicherweise hat Traversis Kontakt zu reformistisch eingestellten Vertretern des Klerus wie Raffaello Rossi seine Geisteshaltung mitbestimmt. Möglich ist auch, dass Traversi durch die deftig-volksnahen Aufführungen der seit Anfang der 1730er Jahre in Neapel populär gewordenen Opernstücke der im Gegensatz zur abgehoben-formalen Tradition der Opera seria stehenden Opera buffa zur Verbindung von Kunst und Authentizität inspiriert worden ist.